Freitag, 21. Juni 2013

Bewusstsein Unbewusstes




Informationen zu meinem Buch
Bewusstsein Unbewusstes

Bewusstsein - Unbewusstes



Vom Lehren der Selbsterkenntnis

In Worten wollen wir von außen hören,
was wir in unserem Inneren schon immer wussten.
Doch niemand kann uns etwas lehren,
das nicht schon in uns schlummert.
Ein guter Lehrer wirkt nicht so sehr
durch sein Wissen und seine Rede,
sondern durch seinen Glauben und seine Liebe.
Der wirklich weise Lehrer sagt nicht,
er habe die Wahrheit gefunden,
vielmehr führt er uns an die Quellen
in der Tiefe unseres eigenen Geistes heran.
An seinem Vorbild lernen wir,
die unbekannten Schätze unserer wandernden Seele
nicht mit einer Waage zu wiegen oder
 mit dem Maßband auszumessen.
Denn wir sind wie ein Meer,
das keine Grenzen und kein Maß kennt.

(frei nach Khalil Gibran: „Der Prophet“)


bewusstsein

Anliegen, Kernaussagen und Aufbau des Buches

In dem Buch geht es um das menschliche Bewusstsein und um die nichtbewussten Prozesse, die ihm zugrunde liegen. Es geht außerdem um die unbewussten Mechanismen, welche die Kohärenz des Bewusstseins und des Selbsterlebens sicherstellen. Ich werde versuchen, wichtige Aspekte dessen, was wir heute über diese Themen wissen, verständlich zu machen. Wenn wir verstehen, was Bewusstsein ist und vor allem auch was es nicht ist, verstehen wir vielleicht auch besser, was unser Menschsein wesentlich ausmacht. Wir werden uns auch mit der Frage beschäftigen, welche Konsequenzen aus diesen Einsichten für unsere jeweilige Lebensgestaltung und für grundlegende Entscheidungsfindungen zu ziehen sind. 

Ich widme mich dem Thema aus meiner Perspektive als Arzt und Psychotherapeut. Ich muss und will verfügbares Wissen zur Anwendung bringen, um Leiden zu lindern, Menschen zu entängstigen, zu ermutigen und zu befähigen, ihr Leben zu bewältigen. Anders als etwa ein Ingenieur, der exakt berechnen kann, mit welcher Konstruktion die gewünschte Tragfähigkeit einer Brücke mit größter Sicherheit zu erreichen ist, kann ich in vielen Einzelfällen nie ganz sicher sein, wirklich das Richtige zu tun. Vieles von dem, was ich als Arzt und Psychotherapeut tue oder sage, beruht auf mehr oder weniger geprüften oder prüfbaren Hypothesen und Deutungen. Wer in der Verantwortung der heilberuflichen Praxis steht, der weiß um das oft unausweichliche Dilemma, ausgestattet mit nur begrenztem oder unsicherem Wissen lebensbestimmende und möglicherweise falsche Entscheidungen für seine oder gemeinsam mit seinen Patienten treffen zu müssen. Umso mehr stehen wir als Ärzte und Therapeuten – und das gilt für jeden anderen auch, der Verantwortung zu tragen bereit ist – in der Pflicht, unser Denken und Tun empirisch so solide wie irgend möglich zu fundieren.

So liegt es nahe, die sich ständig vermehrende Fülle wissenschaftlicher Erkenntnisse aus verschiedenen Forschungszweigen, die zu unserem aktuellen Wissen über Bewusstsein, Nichtbewusstes und Unbewusstes beitragen, auf ihre Anwendbarkeit in der Psychotherapie- und Lebenspraxis hin zu untersuchen. In diesem Buch werde ich mich vor allem mit den Beiträgen der Hirnforschung, der Kognitionswissenschaften und der zeitgenössischen Philosophie auseinandersetzen. Die Kognitionswissenschaften schließen die Neurobiologie, Neurophysiologie, Neuropathologie, die empirische Psychologie, Anthropologie, Linguistik und Informatik (inklusive der Erforschung von künstlicher Intelligenz) ein. Die zeitgenössische Philosophie setzt sich mit den Ergebnissen der empirischen Forschung (einschließlich der Erkenntnisse der Quantenphysik) auseinander und stellt Querverbindungen zwischen den Einzeldisziplinen her. Sie entwirft Metatheorien, die das Forschungswissen der einzelnen Disziplinen zu integrieren suchen. Sie gewichtet, würdigt und diskutiert das empirische Wissen aus einer übergeordneten Perspektive und zeigt mögliche epistemische, ethische und pragmatische Konsequenzen aus diesem Wissen auf. Sie macht zudem Vorschläge für zukünftige Forschungsprojekte.

Es ist völlig unmöglich, das ganze angesammelte Wissen über Bewusstsein und Unbewusstes auch nur annähernd vollständig zu erfassen, geschweige denn umfassend darzustellen. Würde man es trotzdem versuchen, würde ein solches Werk viele seitenstarke Bände füllen und wäre schon am Tag seiner Veröffentlichung überholt. Der größte Nachteil eines enzyklopädischen Werkes aber wäre, dass der Leser infolge der Wissensüberflutung sprichwörtlich ertrinken würde oder – um ein anderes Bild zu bemühen – „vor lauter Bäumen keinen Wald mehr sehen“ könnte. Die Wissensfülle wäre im Hinblick auf die von mir intendierte Anwendbarkeit völlig unbrauchbar. 

Ich benötige folglich, um ein handliches Buch zu verfassen, ein brauchbares Kriterium, das mir hilft, die unvermeidliche Exformation[1], das heißt das Aussondern von entbehrlicher Information, zu bewerkstelligen. Als Filter soll die Frage dienen, was von der Flut des heute verfügbaren Wissens über Bewusstsein und Unbewusstes in der psychotherapeutischen Praxis und im Lebensalltag wirklich nützlich ist. An welchen konkreten, zum Beispiel psychotherapeutischen oder lebenspraktischen Problemstellungen können wir dieses Wissen auf seine Brauchbarkeit hin testen? Ich habe eine Reihe von typischen Fragen aus der Psychotherapie- und allgemeinen Lebenspraxis zusammengestellt, die wir gewöhnlich mit unbewussten Prozessen und/oder mit Bewusstseinstätigkeit in Zusammenhang bringen und die uns vielleicht als Prüfstein dienen können:

  • Warum gelingt es uns als Einzelne oder als Gemeinschaft trotz großer Anstrengungen und guten Willens nicht, bestimmte partnerschaftliche, familiäre, berufliche oder politische Probleme aufzulösen?
  • Warum sind wir in bestimmten Situationen ambivalent hin- und hergerissen und haben so große Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen?
  • Warum verrennen wir uns in Partnerschaften, im Familien- oder Berufsleben wiederholt und ungewollt in Problemsituationen, in die andere Menschen möglicherweise nicht oder nicht in dem gleichen Ausmaß geraten?[2]
  • Wie treffen wir schwierige Entscheidungen?
  • Wie können wir mit scheinbar ausweglosen Situationen fertigwerden?
  • Können wir zwischen richtig und falsch unterscheiden und, wenn ja, wie?
  • Wie hängt unsere körperliche und seelische Gesundheit mit Bewusstsein und Unbewusstem zusammen?
  • Wie können wir uns im Umgang mit unserer Gesundheit intelligenter verhalten?
  • Wie können wir uns gesünder, vitaler und selbstsicherer fühlen?
  • Welche Ursachen und welche Funktion haben Ängste, depressive Verstimmungen, psychosomatische Beschwerden, Süchte und andere seelische Störungen?
  • Wie können wir unsere schädlichen Affekte und Impulse beherrschen?
  • Wie können wir nachhaltig mehr Freude in unser Leben und vielleicht auch in das Leben anderer Menschen bringen?
  • Wie können wir uns in sozialen Kontexten intelligenter verhalten?
  • Welche nichtbewussten Faktoren bestimmen möglicherweise das Verhalten von Menschen, die für uns wichtig sind? Wie können wir diese Faktoren verstehen und dieses Wissen nutzen?
  • Wie können wir mit Verlusten und dem Problem des Todes fertigwerden?
  • Worin liegt der Sinn unseres Lebens?

Sie, geschätzte Leserinnen und Leser, mögen kritisch prüfen, inwieweit das Wissen und die Hypothesen über Bewusstsein und nichtbewusste Prozesse, die ich Ihnen vorstellen werde, wirklich dazu beitragen können, die vorangegangenen Fragen zu beantworten. Können wir als Einzelne, als Familie oder als Gesellschaft – ausgestattet mit diesem Wissen – Problemstellungen effizienter und erfolgreicher lösen und vielleicht gesünder, friedlicher und glücklicher leben als ohne ein solches Wissen?

Das Thema, dem wir uns hier widmen, greift weit über die Not kranker Menschen hinaus in die Grundfragestellungen einer jeden menschlichen Existenz hinein. Wenn wir uns mit dem Phänomen[3] des Bewusstseins und mit dem weiten Feld nicht bewusster Prozesse beschäftigen, begegnen wir zwangsläufig jenen drängenden Fragen, die sich in der einen oder anderen Form jeder zur Selbstreflexion befähigte Mensch irgendwann in seinem Leben stellt, zum Beispiel:

  • Wer bin ich?
  • Was soll/will ich grundsätzlich mit meinem Leben anfangen?
  • Welche Orientierung, welche Werte soll/will ich meinem Leben geben?
  • Was ist wirklich? Was ist wahr?
  • Was können wir erkennen?
  • Wo sind die Grenzen unserer Erkenntnis?
  • Bestimme ich selbst, was ich denke, was ich will und was ich tue?
  • Haben wir Menschen grundsätzlich einen freien Willen (und damit Verantwortung), oder sind wir vollständig durch unsere Gene und Umweltbedingungen determiniert?
  • Kann ich mich wirklich ändern? Kann ich andere verändern?
  • Wie können wir uns als Gemeinschaft (zum Beispiel Familie, Interessengruppe, Partei oder Nation) im Umgang mit anderen Gemeinschaften und mit globalen Herausforderungen intelligenter verhalten?
  • Welche Bedeutung und welchen Wert können Glauben und Religion für uns heutige Menschen haben?

Mit den aufgelisteten Fragen befinden wir uns mitten in einer grundlegenden Betrachtung darüber, in welchen umfassenderen soziokulturellen oder gar spirituellen Gesamtzusammenhang wir als Individuen eingebunden sind und welche Konsequenzen sich möglicherweise aus einer solchen erweiterten Perspektive für unseren persönlichen Lebensentwurf ergeben. Mit Hilfe meiner lebenspraxisbezogenen Fragestellung hoffe ich, auch einen über meine eigene Berufsgruppe hinausgehenden Leserkreis für das Thema „Bewusstsein und Unbewusstes“ zu interessieren. Um das Buch lebensnah, prägnant und gut lesbar zu gestalten, verzichte ich auf eine ausführliche theoretische Einführung und stelle Ihnen stattdessen meine Kernaussagen direkt vor:

In Anlehnung an Gerald Edelman und Giulio Tononi[4] unterscheide ich zwischen einem primären, biologischen Bewusstsein, das auch viele Tiere im Rahmen der Evolution entwickelt haben, und einem höheren, kulturvermittelten und damit spezifisch menschlichen Bewusstsein, das sich weit über die angeborenen biologischen Bewusstseinsfunktionen erhebt und sich vor allem in Subjektivität (phänomenalem Welt- und Selbsterleben[5]) sowie in Schuldbewusstsein und in einem Anspruch, einen freien Willen zu haben, zeigt. Ich hoffe, mit dieser einfachen Unterscheidung einen Teil der verwirrenden philosophischen Debatte über den Bewusstseinsbegriff zu überwinden.

So wie die Erde nicht Mittelpunkt des Universums ist, obwohl wir es so erleben, so ist auch unser menschliches Bewusstsein nicht in unseren Köpfen lokalisiert[6], obwohl wir es so erleben. Menschliches Bewusstsein, das jeder Einzelne von uns als „mein Bewusstsein“ erlebt, ist keine rein individuelle Leistung und auch nicht etwas, was „mir gehört“, wenngleich wir es so erleben.[7] Menschliches Bewusstsein resultiert vielmehr aus der kulturbasierten Interaktion vieler Gehirne und innerhalb dieser Gehirne aus dem Zusammenwirken vieler Nervenzellennetze. Es ist damit ein interpersonales Phänomen, obwohl es phänomenal individuell erfahren wird. Es hat – anders als Nervenzellen (Neurone), Synapsen und elektrische Nervenerregungen – keinen bestimmbaren physikalischen Ort.[8] Wenn wir es unbedingt – der Anschaulichkeit wegen – verorten wollen, dann in einem virtuellen Raum zwischen unseren Gehirnen. Die These von der Nichtlokalität von Bewusstsein ist erst einmal kontraintuitiv und ruft vielleicht erst einmal spontanen Widerspruch hervor. Aber sie ist – wie wir noch sehen werden – neurobiologisch, system-, informations- und quantentheoretisch naheliegend und hat weitgehende lebenspraktische Konsequenzen.

Menschliches Bewusstsein ist auf menschliche Gehirne angewiesen[9], aber es wird nicht von einzelnen Gehirnen erzeugt, so wie die Fülle der Information des Internets auf lokale Computer mit bestimmten Hardware-Voraussetzungen und geeigneten Programmen angewiesen ist, um die verfügbare World-Wide-Web-Information sichtbar und nutzbar zu machen, ohne dass der einzelne Computer der Erzeuger der auf dem Bildschirm erscheinenden Benutzerillusionen wäre. Alle Gehirne verarbeiten Information, aber menschliche Gehirne zeichnen sich im Vergleich zu tierischen Gehirnen dadurch aus, dass sie eine bestimmte Klasse von Informationen verarbeiten und speichern können, die ich „Bewusstseinsinformation“ nennen will. Ich nenne sie so, weil sie geeignet ist, bewusstseinsfähige Gehirne zu verlinken und dadurch erst die besonderen Eigenschaften des menschlichen Bewusstseins hervorzubringen.

Bewusstseinsinformation liegt in symbolischer Form vor; sie umfasst all das, was Kulturen an Zeichen, sprachlichen Produktionen und Bedeutungen (zum Beispiel Schriftzeichen, mathematische Zeichen, Landkarten, Noten, Konventionen, Sitten, Gesetze, Wissenschaften und Religionen) entdeckt, hervorgebracht und verarbeitet haben. Sie wird auch über gegenständliche Kulturprodukte wie Bauwerke, Fahrzeuge, Werkzeuge, Kunstwerke und kultische Objekte vermittelt. Bewusstseinsinformation wird sozial angeliefert, wobei der Informationsfluss und Informationsaustausch sowohl horizontal (zwischen Mensch und Mensch, zwischen Individuum und Kollektiv oder von Kollektiv zu Kollektiv) als auch vertikal (geschichtlich, transgenerational von Menschen und Kollektiven in der Vergangenheit zu Menschen und Kollektiven in der Gegenwart und von uns Heutigen zu zukünftigen Generationen) erfolgt. Die Bedeutung der Bewusstseinsinformation erschließt sich erst aus einem kollektiven und geschichtlichen Kontext heraus.

Theoretisch verbindet Bewusstseinsinformation alle Einzelgehirne, die je gelebt haben, mit denen, die heute leben, und jenen, die zukünftig leben werden, zu einem riesigem sowohl parallel als auch seriell arbeitenden Informationsverarbeitungsnetzwerk. Irgendwo inmitten dieses gigantischen Informationsverarbeitungssystems befindet sich – wie die Erde im Kosmos – unser im Gesamtmaßstab winziges und dennoch einzigartiges Gehirn, welches von der kollektiven Bewusstseinsinformation „durchströmt“ wird, diese empfangen und decodieren kann und Bewusstseinsinformation transformieren, encodieren und senden kann. Was jeder von uns als „mein Bewusstsein“ erlebt, ist die jeweils aktuelle Interpretation und Transformation der kollektiven Bewusstseinsinformation durch unser jeweiliges Individualgehirn, dessen aktuelle Funktion wiederum von der Verfassung unseres Gesamtorganismus abhängt.[10] Jeder von uns ist – wenn auch mit sehr unterschiedlichem Wirkungsgrad – an dem kollektiven Bewusstseinsprozess – beteiligt.

Unser menschliches Bewusstsein ist im Gegensatz zum biologischen Bewusstsein soziokulturell antrainiert („enkulturiert“, wie Merlin Donald sagt). Jedes Lebewesen macht Erfahrungen mit seiner Umwelt und lernt daraus; Tiere mit höher entwickelten Nervensystemen, insbesondere die Primaten[11], machen in ihrem sozialen Umfeld komplexe Lernerfahrungen, die sie zu einem erstaunlich differenzierten Rollenverhalten befähigen. Aber bei keinem Tier ist eine Qualität von soziokulturellem Lern- und Persönlichkeitsformungsprozess erkennbar, der wie beim Menschen zur Ausbildung eines expliziten Selbst und Ich (diese Begriffe müssen unten noch definiert und voneinander abgegrenzt werden) führt.[12] Das Selbst und das Ich stehen nach ihrer Ausreifung mit der Welt der Objekte in einer außerordentlich facettenreichen sensorischen, kognitiven und emotionalen Wechselbeziehung. Kulturelle Einflüsse (die ich unten noch spezifizieren werde), transformieren die sozialen Lernerfahrungen, die – wie gesagt – insbesondere auch Tiere mit höher entwickelten Nervensystemen machen, in Selbstobjekt-Erfahrungen[13], die wahrscheinlich nur Menschen mit ihrem durch ein besonders hohes Maß an Neuroplastizität[14] ausgezeichneten und sprachfähigen Gehirn machen können. Dieser menschentypische soziokulturelle Lernprozess bringt, wenn er glückt, bei jedem Einzelnen ein konsistentes subjektives Selbsterleben (Identität und Kohärenzgefühl) sowie einen unverwechselbaren Persönlichkeitsstil hervor.
                              
Die höheren, typisch menschlichen Bewusstseinsfunktionen, die als wesentliche Bestandteile Symbolisierung, Subjektivität, Willensfreiheit und Gewissen enthalten, sind – das versuche ich zu belegen – unserer evolutionsgeschichtlichen Natur in gewisser Weise aufgenötigt. Sie sind unserer biologischen Herkunft wesensfremd und zugleich das, was uns zu Menschen macht (und als biologische Gattung so überaus erfolgreich gemacht hat). Jeder von uns ist durch einen unerbittlichen Enkulturationsprozess (Erziehung, Sozialisation) gegangen, der jedem Einzelnen eine Ich-Vorstellung, ein phänomenales Selbsterleben, ein Ich-Ideal und ein Gewissen eingepflanzt hat und sich dabei unsere natürliche Ausstattung mit libidinösen (nach Lustgewinn und Bemächtigung der Welt strebenden) und sozialen (nach sicherer Bindung und Anerkennung strebenden) Antrieben und Bedürfnissen zunutze gemacht hat (ich werde das noch erläutern). Diese kulturell forcierte Implantation von Ich, Selbst, Ich-Ideal und Über-Ich, die während des ganzen Lebens nicht abreißt, erklärt, warum es eine Grunderfahrung von vielen (kultivierten) Menschen ist, mit der eigenen Natur (mit Körper, Triebleben, Sterblichkeit) in Konflikt zu stehen und von dem Rest der Welt (und auch dem, was wir „Gott“ nennen) getrennt zu sein.

Entgegen der These, dass Bewusstsein ein reines Epiphänomen ohne eigentliche Funktion sei[15], werde ich zu zeigen versuchen, dass die uns anerzogenen höheren Bewusstseinsfunktionen der Symbolisierung, Subjektivität, Ich- und Selbsthaftigkeit, Willensfreiheit und des Gewissens zusammen einen hochwirksamen Cocktail bilden, der uns für das Kollektiv (vor allem der Familie und der Nation) und die Kultur, denen wir entstammen, so überaus nützlich macht. Unsere Abhängigkeit von Kollektiv und Kultur bedingt aber auch, dass wir verführt, missbraucht und zur großen Gefahr für uns selbst und andere werden können (wofür der Nationalsozialismus ein besonders bedrückendes Beispiel war und die hemmungslose, ökologisch bedrohliche Ausbeutung unseres Planeten ein aktuell brisantes Beispiel ist). Wie sollen wir als Einzelne und als Gemeinschaft mit der Verantwortung, die uns hier zufällt, umgehen?

Als Arzt bin ich immer wieder mit sehr kranken Menschen und damit auch mit der drängenden Frage konfrontiert, wie sich jeder von uns auf das Sterben und den Tod vorbereiten kann. Wie können wir uns im Hinblick auf das unvermeidliche Ende unseres Lebens entängstigen und den letzten Teil unseres natürlichen Lebensweges vielleicht sogar aktiv und sinnhaft gestalten? Solange wir an den Benutzerillusionen unseres phänomenalen Bewusstseins als der eigentlichen Wirklichkeit festhalten und solange sich unser Selbst und unser Ich nicht von der enkulturierten Überschätzung ihrer eigenen Bedeutung verabschieden können, können wir uns mit unserem Sterbenmüssen nicht versöhnen.

Religiöse Menschen haben es da oft leichter. Viele von ihnen machen während des Gebets oder in der Meditation, durch den gemeinsamen Vollzug von Ritualen, beim Singen, Rezitieren und Hören von Texten, beim Betrachten von Gottesbildern und Symbolen, auf Pilgerfahrten und an heiligen Orten besondere Erfahrungen. Sie sind darin geübt, sich für eine Dimension von Seinserfahrung zu öffnen, die sich nicht in den üblichen Sinnesqualitäten und Verstandeskategorien fassen lässt. Für sie existiert neben der phänomenalen noch eine andere Wirklichkeit, auf die sie vertrauen und hoffen können und die vielen von ihnen den Abschied aus den Bindungen in der bekannten Welt erleichtert.

Welche Konsequenzen ergeben sich für nicht religiöse Menschen, die nach meiner Erfahrung ja in gleicher Weise wie religiös Gebundene des Trostes und der Erlösung angesichts des unausweichlichen Leidens und Todes bedürfen? Was kann man als Atheist von den Religionen lernen? Was kann insbesondere unser Wissen über Bewusstsein und Unbewusstes dazu beitragen, dass wir – ob als religiöser oder nicht religiöser Mensch – besser fertigwerden mit der Notwendigkeit des Sterbens?   

Ich habe das Buch so verfasst, wie ich mir persönlich ein Buch zu einem wichtigen Thema wünsche: die Kernaussagen gleich zum Anfang, das Wesentliche in verständlicher Sprache im Haupttext, in verdaubare Portionen unterteilt (die deutlich voneinander getrennten Absätze, in welche ich den Text gegliedert habe, enthalten jeweils einzelne, relativ übersichtliche Wissensdarbietungen oder relativ einfach verständliche Gedankenschritte), am Ende jeden Kapitels eine Zusammenfassung (die auch vorweg als Einstimmung in das Kapitel genutzt werden kann) und die praktischen Konsequenzen, die sich aus meiner Sicht aus dem Kapitel ergeben. Wissenschaftliche Anmerkungen und Quellenangaben finden sich in den Fußnoten (und nicht erst am Ende des Buches, wohin ich mich erst mühsam durchblättern müsste). Ergänzend zum Buch gibt es ein Online-Glossar, in dem wichtige Begriffe erklärt werden. Am Ende des Buches befindet sich ein ausführliches Sach- und Personenverzeichnis.

Zunächst nehme ich eine genaue Begriffsbestimmung und eine thematische Eingrenzung des Gegenstands vor. Im ersten Hauptteil stelle eine ganze Reihe verschiedener Aspekte dar, die in der Medizin, Psychologie, Hirnforschung, philosophischen Diskussion und auch in der Alltagssprache mit dem Begriff des Bewusstseins assoziiert sind und die mir unter praktischen Gesichtspunkten besonders relevant erscheinen. Dabei versuche ich, mich nicht in den leidenschaftlichen Streit der Gelehrten über die richtige Definition und Verwendung der Begriffe „Bewusstsein“ und „Unbewusstes“ verwickeln zu lassen. Denn für die praktische Nutzung kommt es meines Erachtens nicht auf eine endgültige Wahrheitsfindung an (die ohnehin nur eine Illusion wäre). Vielmehr lassen sich die unterschiedlichen Lehren und Standpunkte, die ich vorstellen werde, als sich ergänzende wertvolle Betrachtungen des äußerst komplexen Themas würdigen.

Ein ausführlicher Abschnitt ist den höheren Ich-Leistungen der Metarepräsentation und Mentalisierung, der Selbstüberprüfung, der langfristigen Planung und Korrektur von Routinen, der Metakognition, Selbstreflexion und Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, der Willensfreiheit, der Verantwortungs- und Schuldfähigkeit, dem Gewissen, dem Werte- und Sinnempfinden sowie der Selbsttranszendenz gewidmet. Abschließend gehe ich auf die praktische, vor allem psychotherapeutische Anwendung des Wissens ein, das wir über diese besonders hoch entwickelten und dem Menschen vorbehaltenen Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeiten besitzen.

Der zweite Band des Buches wird sich mit dem Unbewussten, vor allem dem Verdrängungsunbewussten nach psychodynamischen Verständnis, sowie mit dem Grenzbereich zwischen Bewusstsein und Unbewussten auseinandersetzen. Er wird
auf den Zusammenhang von Bewusstsein und Gehirn eingehen sowie auf die Probleme der Wissenschaften, die sich mit dem Bewusstsein und dem Unbewussten beschäftigen. Vor allem wird der Versuch zu unternehmen sein, auf die eingangs gestellten Fragen lebenspraxisbezogene Antworten zu geben. Wie können wir das in diesem Buch zusammengestellte Wissen sowohl in der privaten Lebensplanung als auch bei der Bewältigung der kollektiven Herausforderungen unserer Zeit nutzen? Wenn dieses Wissen wenigstens im Kern zutrifft, dann leuchtet eine pragmatische Konsequenz auf, die sich für unsere von der Wohlstands-, Konsum- und Spaßgesellschaft verwöhnte Ohren vielleicht etwas „unsexy“ anhört: dass wir nämlich nicht umhinkommen, den in unserer Kultur allzu hoch gezüchteten Egozentrismus und Hedonismus in Richtung einer umfassenden kollektiven Verantwortungsethik weiterzuentwickeln.[16]

Ich hoffe, es wird gelingen, die LeserInnen davon zu überzeugen, dass die in diesem Buch propagierte Verantwortungshaltung in keiner Weise als lustfeindliches Pflichtkorsett zu verstehen ist, sondern als befreiende Form von Selbstverwirklichung und als Ausweg aus der Sackgasse des postmodernen Hedonismus und Individualismus. Wenn unser menschliches Bewusstsein, also das, was sich insbesondere durch Symbolisierungsfähigkeit, Subjektivität, Ichhaftigkeit, Willensfreiheit und Gewissen auszeichnet und auf das wir zu Recht stolz sind, eine unbestreitbare Funktion hat, dann die, uns zu eigenständigem und zugleich verantwortlichem Handeln gegenüber der Gemeinschaft, in der wir leben, der Welt als Ganzem und gegenüber den Generationen, die uns nachfolgen, zu befähigen.

Unsere persönliche Heilung und Glücksfähigkeit, aber auch die Zukunft unseres Gemeinwesens, ja das Schicksal des Lebens auf unserem Planeten überhaupt hängen davon ab, ob uns das gelingt, was schon Alfred Adler vor rund hundert Jahren als Therapiekonzeption entwarf[17]: die Integration und Transformation unseres egozentrischen Strebens nach Macht und Geltung in eine Kultur echten Gemeinschaftssinnes (den wir heute im weltweiten Maßstab benötigen). Wenn ich aus den Besonderheiten menschlichen Bewusstseins auf unsere globale Verantwortlichkeit schließe, dann beziehe ich mich vor allem auf das, was sich aus dem Wort „Ver-antwort-ung“ unmittelbar ableiten lässt: dass wir Antworten finden und geben, die unserer bewussten Einsicht in unsere weltumspannende und generationsübergreifende Vernetztheit und Eingebundenheit gerecht werden, und dass wir diesen Antworten gemäß auch wirklich handeln.

Trotz der wissenschaftlichen Orientierung des Buches setzt es kein Fachwissen voraus. Es sollte auch für den interessierten Laien ohne Weiteres verständlich sein. Fachbegriffe werden im Online-Glossar erklärt. Ich wünsche meinen Leserinnen und Lesern eine kurzweilige Lektüre und reichlich Anregungen für die eigene Lebenspraxis und die Bewältigung der Herausforderungen unserer Zeit.


Udo Boessmann, Wiesbaden im April 2013



Worüber reden wir überhaupt?

Babylonische Begriffsverwirrung


In der Psychotherapie und selbst im Alltag sprechen wir wie selbstverständlich davon, dass uns etwas bewusst oder unbewusst ist beziehungsweise dass wir etwas bewusst oder unbewusst tun. Das Wort „Bewusstsein“ erscheint uns so vertraut, dass wir glauben, intuitiv zu wissen, was es bedeutet. Doch schon ein kurzer Blick auf die verwirrende Fülle von Varianten und Bedeutungskontexten, in denen die Begriffe „bewusst“, „unbewusst“, „Bewusstsein“ und „Unbewusstes“ verwendet werden, überzeugt uns schnell davon, dass die Sache alles andere als klar ist.

Wir kennen adjektivische Varianten wie bewusstseinsnah, bewusstseinsfähig, vorbewusst, unterbewusst, bewusstlos und substantivierte Varianten wie Bewusstheit, Unterbewusstsein, Unbewusstheit, Unbewusstsein. Dazu kommen noch die vielen zusammengesetzten Begriffe: subjektives Bewusstsein, intersubjektives Bewusstsein, phänomenales Bewusstsein, introspektives Bewusstsein, retrospektives Bewusstsein, empirisches Bewusstsein, reines Bewusstsein, transzendentales Bewusstsein, höheres Bewusstsein, operationales Bewusstsein, konzeptuelles Bewusstsein, minimales Bewusstsein, reflexives Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Ich-Bewusstsein, Kernbewusstsein, Wachbewusstsein, Zugangsbewusstsein, Einzelbewusstsein, Aktivitätsbewusstsein, Persönlichkeitsbewusstsein, Alltagsbewusstsein, Aufmerksamkeitsbewusstsein, Umweltbewusstsein, Gesundheitsbewusstsein, Qualitätsbewusstsein, Preisbewusstsein, Verantwortungsbewusstsein, Schuldbewusstsein und auch Bewusstseinshorizont, Bewusstseinsfeld, Bewusstseinsphänomen, Bewusstseinsprozess, Bewusstseinszustand, Bewusstseinsinhalte, Bewusstseinsstrom, Bewusstseinsschwelle, Bewusstwerdung usw.

Das Unbewusste begegnet uns in der Literatur unter anderem als primäres Unbewusstes, organismisches Unbewusstes, physiologisches Unbewusstes, deskriptives Unbewusstes, kognitives Unbewusstes, individuelles und kollektives Unbewusstes, hereditäres Unbewusstes, transzendentalphilosophisches Unbewusstes, absolutes Unbewusstes, dynamisches Unbewusstes, Verdrängungsunbewusstes, präödipales Unbewusstes, vorsprachliches Unbewusstes, präreflexives Unbewusstes, symbolisches Unbewusstes, ästhetisches Unbewusstes, romantisches Unbewusstes, cerebrales Unbewusstes, spiritistisches Unbewusstes, hereditäres Unbewusstes, surrealistisches Unbewusstes, genialisches Unbewusstsein, unbewusster Wille, unbewusste Triebregungen, unbewusster Lebensstil, unbewusste Fantasien, unbewusste Vorstellung, unbewusste Erwartungen, unbewusster Zweck, unbewusstes Ziel, unbewusster Dialog, unbewusster Konflikt oder unbewusstes Wissen. Wenn wir dann noch Begriffe wie „bewusstloser Wille“ oder „dispositionelles Unterbewusstes“ in unsere Betrachtung einbeziehen, ist die Verwirrung komplett.

Der Begriff des „Unbewussten“ wird von vielen Laien und selbst von den meisten Therapeuten, die mit ihm arbeiten (zum Beispiel Psychoanalytiker, Tiefenpsychologen und Hypnotherapeuten), erstaunlich unreflektiert verwendet. Für sie steht „das Unbewusste“ für eine verborgene Macht, die unser Leben, Handeln und Erleben auf mehr oder weniger geheimnisvolle Weise steuert. Immer dann, wenn wir für das Verhalten von Menschen keine rationale Erklärung finden, sind wir geneigt, das Unbewusste verantwortlich zu machen. Das Unbewusste ist quasi ein Platzhalter für Kräfte in uns und in anderen, die wir nicht kennen.

Seit dem 18. Jahrhundert wurden die verschiedensten Konstrukte entworfen, welche den Mangel an sicherem Wissen durch Spekulationen über die Gesetze, denen das Unbewusste angeblich folgt, ersetzten. Diese Spekulationen und die therapeutischen Techniken zur Beeinflussung und Nutzung des Unbewussten, welche auf der Grundlage der verschiedenartigen Konstrukte entworfen wurden, gilt es vom Standpunkt unserer heutigen wissenschaftlichen Möglichkeiten zu hinterfragen. Dank der empirischen Forschung der Neuro- und Kognitionswissenschaften hat „das Unbewusste“[18] seinen mystisch verklärten Status als das große Unbekannte und Unberechenbare zu einem erheblichen Teil eingebüßt. Die empirische Psychologie und die Hirnforschung haben inzwischen eine Vielzahl von Prozessen nachweisen können, die in unserem Organismus automatisiert ablaufen, ohne dass wir Bewusstsein von ihnen haben. Auch ein Teil der Mechanismen, über welche diese nicht bewussten Vorgänge unser bewusstes Erleben und Handeln bestimmen, konnte entschlüsselt werden.

Als das eigentliche Mysterium erweist sich erstaunlicherweise das, was uns im Alltag so vertraut und selbstverständlich erscheint: unser Bewusstsein beziehungsweise das, was wir dafür halten. Lassen Sie uns die Spuren des Begriffes „Bewusstsein“ ein wenig zurückverfolgen.


Verwendung des Begriffs „Bewusstsein“


Der Begriff „Bewusstsein“ soll 1719 von dem Philosophen Christian Wolff (1679–1745) als Übersetzung des lateinischen Begriffs „conscientia“ in die deutschsprachige Literatur eingeführt worden sein.[19] Das Verb „conscire“ bedeutet: mit anderen ein gemeinsames Wissen teilen. Während vor allem das Wissen um soziale Normen sinnvollerweise von möglichst vielen Menschen geteilt wird, muss unter bestimmten Umständen der Teilnehmerkreis von gemeinsamen Wissen stark begrenzt sein: So waren zum Beispiel Cäsar und seine Feldherren „conscii“ („conscius“ = Mitwisser, Zeuge, Vertrauter, Mitverschworener) ihrer heimlichen Schlachtpläne. „Conscius sibi“ bedeutet schließlich, Mitwisser seiner selbst zu sein und sein intimes Wissen gerade nicht mit anderen zu teilen.

„Conscientia“ hatte also schon in der Antike eine doppelte Bedeutung: die eines gemeinsamen Wissens von moralischen Sachverhalten und – in bestimmten Kontexten – auch die eines inneren privaten Wissens, das die geistigen Operationen des Subjekts begleitet.[20] Der lateinische Stammbegriff „conscientia“ findet sich in der englischen Sprache als „conscience“ im Sinne von Gewissen  und „consciousness“ im Sinne von Bewusstsein oder Wissen vom Selbst wieder. Das französische Wort „conscience“ hat – wie das lateinische „conscientia“ eine Doppelbedeutung: Es bedeutet sowohl „Bewusstsein“ als auch „Gewissen“.

Die Vieldeutigkeit der vom lateinischen „conscientia“ abgeleiteten Begriffe in den romanischen Sprachen wird an weiteren Beispielen des Französischen offensichtlich: Für Bewusstsein kann auch das Wort „connaissance“ verwendet werden, was zugleich die Bedeutung von „Wissen“, „(Er-)Kenntnis“ und „Bekanntschaft“ haben kann. Der Ausdruck „sans connaissance“ bedeutet „bewusstlos“, aber auch „unwissend“ oder „sinnlos“. Das Wort „inconscient“ kann sowohl „bewusstlos“ als auch „unbewusst“, aber auch „gewissenlos“ oder „leichtsinnig“ (englisch „inconscionable“) bedeuten. Auch in anderen romanischen Sprachen gibt es nur ein gemeinsames Wort für „Gewissen“ und „Bewusstsein“. Die romanischen Sprachen verfügen zudem über kein eigenes Wort für das „Selbst“. In vielen Sprachen gibt es überhaupt kein Äquivalent für unseren Bewusstseinsbegriff.

Hirnforscher, Kognitionswissenschaftler und Philosophen bemühen sich unterdessen, den Begriff „Bewusstsein“ präzise zu definieren und die Undeutlichkeiten und Vieldeutigkeiten in der Alltagssprache zu überwinden. Alle Bemühungen um begriffliche Klarheit führen allerdings nicht zu einer eindeutigen und allgemein verbindlichen Definition im Sinne von „Bewusstsein ist das und das“. Dazu ist das Phänomen „Bewusstsein“ zu vielschichtig. Vielmehr beleuchten die verschiedenen Definitionen von Bewusstsein immer nur unterschiedliche Aspekte des Gesamtphänomens. Die wichtigsten Definitionen und Unterscheidungen, die verschiedene Autoren hinsichtlich des Bewusstseinsbegriffs getroffen haben, habe ich im Glossar am Ende des Buches in Kurzform zusammengestellt.





[1] Das Konzept und der Begriff „Exformation“ wurde vom dänischen Physiker Tor Nørretranders zur Bezeichnung von explizit verworfener Information eingeführt. Der Begriff wird uns in diesem Buch noch ausgiebig beschäftigen.

[2] Dafür befinden sich andere mitunter in Schwierigkeiten, die uns nicht anfechten.
[3] Das Wort „Phänomen“ leitet sich vom griechischen „phainesthai“ = „sichtbar werden“ oder „erscheinen“ ab.

[4] G. Edelman und G. Tononi (2000: „A Universe of Consciousness. How Matter Becomes Imagination“, Basic Books, New York) unterscheiden ein primäres Bewusstsein und ein Bewusstsein höherer Ordnung. Das primäre Bewusstsein ist die Fähigkeit, Sinneseindrücke zu einer „Szene“ zusammenzufassen, und zwar so, dass verschiedene Ereignisse zu einem raumzeitlichen Muster von Kategorisierungen, zu einer „erinnerten Gegenwart“ vereint werden. Im Gegensatz dazu gehört zum Bewusstsein höherer Ordnung ein Konzept des „Ich“, der „Welt“, der „Vergangenheit“ und „Zukunft“ und der Sprache.

[5] Der Begriff des phänomenalen beziehungsweise qualitativen Erlebens spielt in der philosophischen Bewusstseinsdiskussion eine wichtige Rolle. Gemeint ist die nicht objektivierbare, subjektive Qualität von Empfindungen, zum Beispiel von Zahnschmerzen, des Duftes von Basilikum oder der Farbe eines Rapsfeldes, sowie die subjektive Qualität von emotionalen Zuständen, zum Beispiel das Erlebens von Glück oder Trauer oder das subjektive Erleben einer Musikdarbietung oder eines Kunstwerkes. Phänomenal heißt das Erleben, weil es darum geht, wie Dinge, Ereignisse oder innere Zustände, die ein anderer ganz anders erleben kann, mir ganz persönlich erscheinen (siehe auch im Glossar unter Bewusstsein: phänomenales Bewusstsein, und unter Qualia).

[6] Es ist auch nicht an den Stellen im Gehirn lokalisiert, die im PET-Scan aufleuchten, wenn zum Beispiel die untersuchte Person Objekte bewusst erkennt (PET=Positronen-Emissions-Tomografie ist eine Methode, bei der injiziertes radioaktives Wasser Positronen emittiert und dynamische Prozesse im Gehirn sichtbar macht). Die Hirnaktivität bei bewussten kognitiven Prozessen ist alles andere als lokal, sondern verteilt sich immer über weite Teile des Gehirns.

[7] Die „Meinhaftigkeit“ des Bewusstseins ist – wie wir noch sehen werden – eine nützliche Benutzerillusion.

[8] Thomas Fuchs (2010: „Das Gehirn – ein Beziehungsorgan“, Zeitschrift „Information Philosophie“, Heft 5/2010) verweist im Zusammenhang mit der Nichtlokaität von Bewusstsein auf Maurice Merleau-Pontys Begriff der „Zwischenleiblichkeit“ (französisch: „intercorporéité“). Für die Entwicklung des Gehirns sowie der spezifisch menschlichen Subjektivität und des Selbstbewusstseins bedürfe es vor allem der Interaktion mit anderen, was unter anderem in der Fähigkeit des menschlichen Säuglings zur spontanen und genauen Imitation von intentionalen und expressiven Handlungen anderer erkennbar werde. Fuchs: „Das personale Selbst entwickelt sich erst im Durchgang durch die Perspektive der Anderen, also mit der Fähigkeit, aus dem eigenen Zentrum gleichsam herauszutreten und die Sichtweise anderer nachzuvollziehen. Der Geist ebenso wie die ihm zugrunde liegenden Hirnstrukturen sind wesentlich soziale und kulturelle Phänomene. Das menschliche Gehirn ist ein wesentlich sozial und geschichtlich konstituiertes Organ.“

[9] Zumindest ist zurzeit kein technisches System in Sicht, welches eine dem menschlichen Gehirn vergleichbare Funktion erfüllen könnte.

[10] Wenn ich bislang vereinfachend vom Gehirn gesprochen habe, so war immer das in einen Gesamtorganismus eingebettete Gehirn gemeint, dessen Funktion losgelöst vom restlichen Körper gar nicht sinnvoll gesehen werden kann. Das Gehirn ist über eine Vielzahl von Nervenverbindungen und auch über humorale Botenstoffe (die zum Beispiel im Blut transportiert werden) mit dem übrigen Organismus verbunden. Die Aktivität des Gehirns, die sich in unserem Erleben, Denken, Wollen und Handeln äußert, schwankt erheblich in Abhängigkeit von der Verfassung des Körpers, unter anderem vom Alter, von der zirkadianen Rhythmik (den üblichen Tagesschwankungen), vom Gesundheitszustand, von der Nahrungsaufnahme, körperlichen Tätigkeit, Ausgeschlafenheit oder Müdigkeit, Wirkung von Suchtmitteln und Medikamenten. Die Körperverfassung wiederum wird stark von emotionalen Faktoren beeinflusst.

[11] Siehe Glossar.

[12] Wie das Ich und das Selbst und damit das höhere Bewusstsein aus der Interaktion eines Kindes mit seiner Umwelt entstehen, wird in den psychoanalytischen Objektbeziehungs-, ich- und selbstpsychologischen Theorien beschrieben. Diese Theorien werden uns später noch beschäftigen.

[13]Selbstobjekt“ ist ein Begriff von Heinz Kohut, der die Funktion eines Menschen oder auch einer Sache für den Aufbau, den Erhalt und die Entwicklung des Selbsterlebens eines anderen Menschen bezeichnet und uns noch beschäftigen wird (siehe auch Glossar). 

[14] Mit neuronaler Plastizität wird die Fähigkeit von Gehirnen bezeichnet, neue Verbindungen zwischen Nervenzellen (Synapsen) auszubilden, bestehende Verbindungen zu verstärken und überflüssige Verbindungen aufzulösen. Auf diese Weise können relativ rasch neue Nervenzellennetzwerke gebildet werden, die neue oder alte (zum Beispiel beschädigte) Funktionen übernehmen können. Durch ihre Neuroplastizität können sich Gehirne prinzipiell jederzeit umformen, neu organisieren und sich an neue Anforderungen anpassen. Neuroplastizität ist damit eine wesentliche Voraussetzung für die Lernfähigkeit von Gehirnen und für das Gedächtnis (weitere Information im Glossar).

[15] Eine Reihe namhafter Philosophen glaubt, dass das Phänomen „Bewusstsein“ keinen wesentlichen Beitrag zu unserer Erkenntnis der Welt leiste. Die Position des Epiphänomenalismus soll zuerst von Thomas Henry Huxley (1874: On the hypothesis that animals are automata, and its history”, in: Fortnightly Review 22”, London, S. 555-580, wieder in: Collected Essays: Volume I, Method and Results, S. 195-250) vertreten worden sein. Unser gesamtes waches, integriertes Verhalten ließe sich vollständig aus physiologischen Kausalzusammenhängen erklären, in denen wir als erlebende Subjekte überhaupt nicht vorkommen. Auch ohne unsere subjektive Innenperspektive würden wir „auf dieselbe Weise durch die Welt stolpern, wie wir es mit ihr tun“. Selbst auf unser Denken, Sprechen, auf Erinnerungen und die Steuerung unseres Handelns habe das Bewusstsein keinen Einfluss; Bewusstsein sei ein reines Epiphänomen, ein sekundäres, oberflächliches und wirkungsloses Nebenprodukt mentaler Aktivität. Zeitgenössische Autoren wie Patricia Churchland und Georges Rey gehen so weit, sogar den Wert des Begriffes überhaupt in Frage zu stellen: „Bewusstsein“ sei ein Wort der Alltagssprache, für das wir eigentlich keinen Bedarf haben.

[16] Als ich vor sieben Jahren meine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema „Bewusstsein“ und „Unbewusstes“ begann, hatte ich keine Ahnung davon, dass sich mir im Zuge der Erschließung der Funktion des menschlichen Bewusstseins die globale kollektive Verantwortlichkeit eines jeden wirklich bewusstseinsfähigen Menschen so unausweichlich zeigen würde, eine Verantwortlichkeit, vor der ich mitunter am liebsten davonlaufen würde.

[17] Unter anderem in Adlers 1912 erschienenen Hauptwerk „Über den nervösen Charakter“, 1972 als Fischer Taschenbuch aufgelegt.
[18]  Den Begriff „Unbewusstes“ verwende ich in den folgenden Kapiteln dieses Buches als die Gesamtheit aller ohne Bewusstsein ablaufenden Prozesse und nichtbewussten Faktoren, die für unser Verhalten und Erleben eine kausale Rolle spielen.

[19]  Vgl. Thomas Metzinger und Ralph Schumacher,  Internetaufsatz mit dem Titel: „Bewußtsein“.
[20]  Quellen: Horst Robert Balz et al., 1977: „Theologische Realenzyklopädie, Band 13“, S. 199 ff., de Gruyter und Nicholas Humphrey, 1997: „Die Naturgeschichte des Ich“, München: Knaur, Original 1992: „A History of the Mind. Evolution and the Birth of Consciousness“. 


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